Alleinreisende Zugsitze

Die ostwestfälische Originalfamilie steigt am Ostbahnhof in den ICE von Berlin nach Frankfurt. Vater, Mutter, zwei Söhne im profund geschätzten Alter von 14 und 16 Jahren. Der von ihnen eroberte Wagen 7 ist – wie an dieser Stelle üblich – noch sehr leer. „Hier ist ein Vierer mit Tisch!“, ruft der dümmere der beiden Söhne, und auch sein Bruder hat etwas Passendes gefunden. In den ersten Reisevorbereitungen wird der Proviant verteilt, aus Händen, Taschen und Rucksäcken, quer durch den Wagon. Die Söhne streiten sich, wer was mit wessen Berechtigung in welches Tragebehältnis gepackt hat.
Da entdeckt die Mutter mit vollen Backen die Reservierungsanzeige überkopf und liest laut  (im Rahmen ihrer Möglichkeiten) vor: „Berlin Kassel, Berlin Kassel, Berlin Göttingen…“, von dem besorgten Ausruf gefolgt: „Ich hoffe die fahren nach Bielefeld – draußen stand doch  Abschnitt C bis E.“ Sicherheitshalber werden die Söhne beigeordert, die Familie verteilt sich auf acht Sitzplätze, überwiegend mit dem Reiseziel „Berlin Braunschweig“.Der Zug hat den Bahnhof Berlin Walachei (offizielle Abkürzung: Hbf) noch nicht ganz erreicht, da führt die lautstark gemeinsam von Vater und Mutter durchgeführte Prüfung des ausliegenden „Reiseplans“ zu Irritationen: „Wo ist denn da Bielefeld, hält der da gar nicht?“ Zumindest – möchte ich zur Beruhigung beitragen – fahren die gewählten Sitzplätze ausweislich der Anzeige nach Braunschweig, nicht nach Bielefeld.

Während die Mutter stimmgewaltig beklagt, dass ihre Familie nicht wie andere vor Fahrtantritt am Schalter die reisenotwendigen Erkundungen einzieht, befüllt sich der  Wagen von beiden Seiten drückend. „Haben Sie hier reserviert“, fragt ein Reiserentner den Bielefelder Vater, während sich eine dreiköpfiger Inderschaft in ähnlicher Weise an den Söhnen delektiert. Die Ostwestfalen weichen ohne Widerstand, sich gegenseitig für dieses Vagabundentum der totalen Unfähigkeit zeihend.

Der Schaffner hat gute Laune oder ein unterdurchschnittlich kleines Kadavergehorsamsgen, jedenfalls zwingt er den Reiseclan nicht zum Kauf einer neuen Fahrkarte, sondern lässt alle mit ihrem in diesem nicht gebuchten Zug ungültigen Sparticket weiterrollen bis zum nächsten Halt – Braunschweig. Von dort wird sie eine Regionalbahn direkt, nur nicht ganz so schnell wie gedacht, nach Bielefeld befördern.

Die Mutter hebt noch einmal zu einem Großgezeter an. Warum immer sie sich um alles kümmern müsse, schon auf der Hinfahrt sei das so gewesen, „da hast du immer nur gesagt ‚guck doch mal, ob das der richtige Zug ist‘ und ’sind wir auch wirklich am richtigen Gleis'“  – und überhaupt. Der Vater wechselt in den Biersalon. Von  den  Söhnen narkotisiert sich der Kürzere mit House-Musik, der Zweitjüngste zieht seinen ledernen Cowboyhut – ein typisches Berliner Souvenir – noch tiefer in die Stirn und macht sich Notizen in einem Kalender des Vorjahres.  Sicherlich arbeitet er an einer Glosse über Alleinreisende, die Theater spielende Familien beobachten, ohne deren Urlaubsglück zu begreifen.  (Tg)

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