Hintergrund: Es war eine kleine investigative Recherche: Durch die Teilnahme der eigenen Kinder am “Kinderturn-Test” aufmerksam geworden, fragte Timo Rieg nach den rechtlichen Grundlagen einer bundesweiten Datenerhebung bei Kindergarten- und Grundschulkindern, an der wesentlich die BARMER Ersatzkasse beteiligt ist. Aufgrund der Recherchen schreitet der Bundesdatenschutzbeauftrage ein und unterbindet die Aktion. Ende gut alles gut? Nicht für den freien Journalisten, der für das Thema keine Redaktion fand und es daher – nicht wirklich abgeschlossen – wenigstens kurz in der Satire-Zeitung “Helgoländer Vorbote” anreißt. (Netzwerk Recherche Newsletter Nr. 39, 5. Januar 2007)
Barmer vermisst Kinder
Die Musterung erfolgt in zwei Terminen – aus Effizienzgründen. In einer ersten Maßnahme werden die volkswirtschaftlichen Basisdaten aufgenommen: Körpergröße und Gewicht, die in die Standardwährung für hirnfreies Humankapital, den BMI, umgerechnet werden. Nur ein paar besonders fette Blagen heulen bei der Prozedur.
Für den zweiten Musterungsteil braucht es neben Messlatten aller Art vor allem eine Trillerpfeife. Nach einem halben Vormittag ist auf dem Musterungsbogen die (Un-) Tauglichkeit festgehalten: Einbeinstand, Balancieren rückwärts, seitliches Hin- und Herspringen, Rumpfbeuge, Standweitsprung, Liegestütz, 6-Minuten-Lauf. Verrechnet mit dem BMI gibt’s dafür mehr oder weniger Smilies. Die meisten sind happy, insbesondere die Musterer – neben Sportlehrern vor allem gut ausgewachsene Hobbyhüpfer in sportiver Vereinsfunktion.
“Wir haben alles im Griff, es gibt überhaupt kein Problem” euphorisiert Susanne Uhrig, Pressesprecherin der BARMER Ersatzkasse, im dritten Gespräch. “Ab sofort gibt es diese Daten-Felder nicht mehr, auf allen bisherigen Bögen wird es geschwärzt.” Die Freude springt erfolgreich über. Wie es denn jemals zu diesen nun schwarzen Datenfeldern kommen konnte, lässt sich nicht klären und ist ja nun auch Schnee von gestern.
Claudia Karger jedenfalls erinnert sich sehr genau, dass es die BARMER Ersatzkasse war, die im “Ergebnisbogen” (Link am Ende) für Kindergartenkinder und Grundschüler Namen, Adresse und Geburtsdatum abfragen wollte; es war nicht sie, die irgendwann aus dem ganzen Datensalat Wissenschaft zaubern soll. Es geht um nichts geringeres als die Volksgesundheit. Oder wie Frau Uhrig sagt: “Die Gesundheit der Kinder liegt uns doch allen am Herzen.” Wer wollte das bei einer Krankenkasse bestreiten? Alle an diesem “Kinderturn-Test” Beteiligten wollen nur Gutes:
Claudia Karger vom “Forschungszentrum für den Schulsport und den Sport von Kindern und Jugendlichen (FoSS)” möchte wissen, wie fit oder unfit der Nachwuchs ist, weil das mit einem einfachen Blick auf den Schulhof oder in die Sportzeile der Zeugnisse nicht valide zu ermitteln ist. Der Deutsche Turnerbund möchte für seinen Vereinssport werben; weil das urdeutsch und unbestritten gut ist, steht er auch im Vordergrund der ganzen Kampagne. Bundesjugendsekretärin Karin Patschke sagt: “Wir wollen Kindern und Eltern bewusst machen, wie wichtig Bewegung ist.”
Und dann ist da noch die BARMER, mit 7,2 Millionen Mitgliedern Deutschlands größte gesetzliche Krankenkasse. Sie übernimmt die gesamte Logistik für die bundesweiten Tests und die dafür benötigte Kommunikation. Den finanziellen Einsatz “kann man nicht bemessen”, außerdem sind da ja auch noch Gesundheitssponsoren wie der Bio-Öko-Transfair-Laden “EDEKA” und das “Wir-machen-uns-den-Strom-mit-dem-Dynamo-selbst”-Firmchen “EnBW Energie Baden-Württemberg AG”. Zusätzliches Personal jedenfalls wurde nicht eingestellt.
Die Idee ist simpel und bestechend: In der Atmosphäre eines kleinen Wettbewerbs sollen “flächendeckend und unkompliziert” die “motorischen Fähigkeiten von Kindern” (Leitfaden) im Alter von 3 bis 10 Jahren erfasst werden. Innerhalb weniger Wochen hatten bereits 2.500 Grundschulen und Kindergärten das Infopaket zum “Kinderturn-Test” angefordert, um gruppen-, klassen- oder einrichtungsweise ihre Zöglinge durchzuchecken.
Merkwürdig nur, warum die BARMER bei dem ganzen Prozess blinde Post spielen wollte. Denn die Ergebnisbögen der Tests mit allen persönlichen Angaben zu jedem Kind sollen “an Ihre zuständige BARMER Geschäftsstelle geschickt” werden (Leitfaden). Von dort gehen sie dann weiter zum FoSS.
Denn was da rein servicemäßig durch die Geschäftsstellen geschleust werden soll, ist brisant, – so brisant, dass der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar – um eine Einschätzung gebeten – das Verfahren gestoppt hat: es sei “nicht erkennbar, warum für die wissenschaftliche Auswertung überhaupt Namen, Geburtstage und vollständige Adressen der Kinder erforderlich sind”. Eine gesetzliche Grundlage für die Datenerhebung fehlt.
Wie viel Fantasie braucht es, um sich Nutzungsmöglichkeiten für eine solche Datenmasse vorzustellen? Je mehr Wettbewerb auf dem Krankenversicherungsmarkt herrscht, um so relevanter wird es, kostengünstige Versicherte zu haben, Mitglieder mit möglichst wenigen Schadensfällen. Wenn die Grundannahme des gesamten Kinderturn-Tests stimmt – dass nämlich ein paar einfache Sportchecks Rückschlüsse auf die Fitness liefern können -, dürften die Ergebnisse von heute auch noch in Jahren interessant sein – für Versicherer.
Dr. Peter Wedde, Professor für Arbeitsrecht und Recht der Informationsgesellschaft an der FH Frankfurt und mit dem Gesundheitsbereich besonders vertraut, mag über die Interessen der BARMER nicht spekulieren, sein Urteil ist in jedem Fall deutlich: “Wenn es kein böser Wille war, sensible Daten in dieser Form zu sammeln, dann war es grob fahrlässig.” Ähnlich äußern sich mehrere Landesdatenschutzbeauftragte, die aber wegen ihrer Nicht-Zuständigkeit für eine bundesweite Krankenkasse nicht zitierbar sein wollen.
Die Fahrlässigkeit räumt die engagierte Projektleiterin bei der BARMER, Astrid Funken, unbenommen ein: “Es war ein Riesenfehler.” Aber sie hat auch eine Begründung, wie es dazu kam: Ursprünglich sollten alle Testteilnehmern eine “qualitative Rückmeldung” erhalten, dafür wäre der persönliche Kontakt nötig gewesen. Doch aufgrund der unerwartet großen Beteiligung an dem Test sei dies nicht zu leisten gewesen. Was da ein Computerprogramm aus den wenigen Angaben noch machen wollte, ist derzeit nicht zu ermitteln.
Auf die einzelnen Kinder sollen die Daten nun also nicht mehr bezogen werden können – doch auf die Einrichtung, also die Schule, den Kindergarten oder den Sportverein schon – “wegen der Qualitätskontrolle”, meint Claudia Karger; man könnte ja mal Rückfragen haben, muss die Qualität der Tester einschätzen können. Auch damit kann, wer will, eine ganze Menge anfangen, wie man u.a. beim “Kreditscoring” sehen kann: da lässt sich aufgrund von Daten aus Ortsteilen, Straßen oder einzelnen Wohnblocks durchaus die Kreditwürdigkeit eines einzelnen abschätzen. Aus Krankenkassensicht interessante und uninteressante Wohngebiete können also auch weiterhin aus dem Kinderturn-Test destilliert werden.
PS: Positive Selbstbetrachtung der Kampagne durch die Barmer 2008
Beispiel-Bericht Westdeutsche Zeitung (27.02.2007)
Im “Evaluationsbericht der Kampagne Kinderturnen 2006 – 2008“* sucht man das Stichwort “Datenschutz” vergeblich. Dafür findet sich auf Seite 134 der “Rückmeldebogen”, in dem Name und Geburtsdatum des Test-Kinds einzutragen sind. Keine Adresse mehr, aber eben genügend Daten zur individuellen Identifizierung.
* Von Claudia Karger und Klaus Bös: Kampagne „Kinderturnen – Die Zukunftschance für eine nachhaltige Bewegungsförderung in Deutschland“