Die Beamtenpest

I.
Allein vom Staate wurde die Kultur doch in hohem Grade positiv und negativ bestimmt und beherrscht, indem er von jedem einzelnen vor allem verlangte, dass er Bürger sei. Jeder einzelne hatte das Gefühl, dass die Polis in ihm lebe.
Diese Allmacht der Polis aber ist wesentlich verschieden von der modernen Staatsallmacht. Diese will nur, dass ihr niemand materiell entwische, jene wollte, dass jeder ihr positiv diene, und mischte sich deshalb in vieles, was jetzt dem Individuum überlassen bleibt.
(Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen)

[…] In den »Weltgeschichtlichen Betrachtungen«, diesem großen Weltbild eines der letzten liberalen Europäer, zeichnet Jacob Burckhardt die griechische Polis mit liebevollen Strichen. Der Vergleich mit den schweizerischen Städten fällt sofort auf: dort der große, mechanistische Staat, der nur materialistische Interessen vertrete; hier das feine, geistige, oligarchische und fast aristokratische Staatsgefüge, das eben vermöge seiner Kleinheit andern Gesetzen unterliege als die Kolosse… es ist wie ein Klageruf um Vergangenes und Vergehendes.
Burckhardt könnte heute zufrieden sein, wie-? Da ist nun ein Europa, in dem es von kleinen und kleinsten Staaten wimmelt; jede kleine Gruppe ist zu einem Staatswesen geronnen, überall flattern neue Fahnen im Wind…
Essig.
Der Grundfehler dieser neuen Staatsgründungen liegt darin, dass sie allesamt von ihrer Kleinheit und von dem Vorzug ihrer militärischen Machtlosigkeit überhaupt keinen Gebrauch machen. Sie ahmen vielmehr den großen Staaten in deren bösesten Unarten nach, ohne ihren eignen Wert, der auf ganz andern Gebieten liegen könnte, zu steigern. Das zeigt sich an mancherlei Symptomen.
Man kann bei dieser Staatenbildung en gros einmal recht deutlich sehen, wie das Individuum den Staat wirklich beurteilt, und was der in Wahrheit ist. Nehmen wir ihm einmal die Fahne etwas hoch, und was sehen wir da?
Le pavillon couvre la marchandise. Aber was sehen wir noch?
Wir sehen die Menschen sich wie die Raben auf eine fette Beute stürzen. Hier gibt es: Pension; völlige Verantwor­tungs­losig­keit im Handeln; Autorität; Befriedigung von dumpfen Gelüsten, als da sind: Kollektivrausch minderwertiger Indivi­duen, Sadismus, auszulassen am Nebenmenschen… und noch mancherlei. Da sind sie alle da.
In Ungarn ist jeder fünfte Mensch ein Beamter. Das heißt: Ein Fünftel Ungarn lebt von den vier andern Fünfteln, sich mühselig eine Arbeit schaffend, die ursprünglich gar nicht vorhanden gewesen ist. Man hat den immensen Fehler begangen, die Stadt Danzig, eine mittlere Hafenstadt wie hundert andre auch, zu neutralisieren: die Honoratioreneitelkeit schlug hohe Bogen, und dieses Nest, das hundertundfünfzigtausend Einwohner gehabt hat und nun durch Eingemeindungen zweihunderttausend dazu bekommen hat, spielt Staat, wie ein Kind, das Kaufmann spielt. Die Folge ist eine niemals abreißende Krise: die Steuerzahler können diesen Haufen von geschäftigen Nichtstuern nicht mehr ernähren.
Der Staat hat überall die Religion ersetzt, wo die zu schwach ist, die metaphysischen Bedürfnisse von Kinobesuchern zu befriedigen. Es scheint ja, als übten die Worte »Staat, staatlich und Staats…« eine gradezu dämonische Wirkung auf die Träger aus, und wer einmal mit angesehen hat, wie ein Beamter auf eine Beamtenbeleidigung wartet, in sich, dem Herrn Lehmann, plötzlich die große Kollektivität spürend, der wird wissen, wie sich die Eitelkeit des Privat­mannes hinter die Wand des Staates verkriechen kann. Dass die wahre Macht der Staaten im Verhältnis zu ihrer sich ständig mehrenden Aktivitätsausdehnung ebenso ständig durch die Internationale der Kapitalisten gemindert wird, braucht jene nicht zu stören. Wer sich in seiner Straße nicht durchsetzen kann, weil er einen Buckel hat, der zieht sich eine Uniform oder einen Titel an: Alle sehen nur noch die Uniform, niemand sieht den Buckel. […]
Man sollte nun annehmen, dass die kleinern Staaten so denken: So groß wie Russland sind wir nicht; so volkreich wie Deutschland sind wir nicht; so mächtig wie England sind wir nicht – also treten wir auf einem Gebiet an, auf dem uns niemand schlagen kann: nämlich auf dem des friedlichen Wettbewerbs der Kultur. Aber davon ist keine Rede.
Das starrt von Waffen; das starrt von Imperialismus, von dum­men und nichtigen Minoritätsfragen, deshalb dumm und nichtig, weil die aufgewendete Energie meist in gar keinem Verhältnis zur Bedeutung dieser Minderheiten steht, es sind oft weniger Prätentionen von Völkern als solche ehrgeiziger Sekretäre; das erlaubt sich Rechtsbrüche genau wie die Großen; das rast gegen die Fremde genau wie die Großen – kurz: die ganze Klasse mauschelt schon.
Da gibt es Abstufungen: in Estland ists sicherlich nicht so schlimm wie in Ungarn; Jugoslawien benimmt sich anständiger als Bulgarien – aber im großen Ganzen toben sich doch in diesen kleinen Staaten Unvernunft, privater Geltungswahn und übelster Kapitalismus aus, der um so schädlicher und gefährlicher ist, weil er sich intensiver bemerkbar macht. In Deutschland rutscht schon einmal jemand durch – in Lettland ist das schwerer. Und keiner sieht, dass Größenunterschiede Qualitätsdifferenzen zur Folge haben, und dass es gar nicht die Aufgabe der kleinen Staaten ist, in Kleidern herumzulaufen, die ihnen acht Nummern zu groß sind.
Sie äffen die Großen, und wenn die sich lausen, lausen sie sich auch. Sie haben ihre »Geschichte«, und wenn sie sie erst kons­truieren mussten, so haben sie sie konstruiert; sie haben ihre »Traditionen«, und wenn die erst zehn Jahre alt sind, so riechen sie doch schon, als hätten sie ein Alter von hundert; sie haben ihren Staatsdünkel, ihre Selbstgefälligkeit, ihren Gruppen­wahnsinn und ihre eigenstaatlichen »Belange« wie die großen. Sie haben überhaupt alles. Nur eins haben sie nicht.
Es fehlt ihnen völlig die Existenzberechtigung. Man weiß gar nicht, wozu das da ist. Der Föderalismus ist nicht abzulehnen – diese Staaten-Spielerei ist abzulehnen. […]

II.
Um zu verstehen, wie der Beamtenapparat in großen und kleinen Staaten arbeitet, muss man sich vergegenwärtigen, wie der Einzelne dazu kommt, Beamter zu werden.
Er wird es natürlich nicht, weil er den Staat bejaht, oder weil er es gar nicht ertragen kann, wenn er seine Kraft nicht dem öffentlichen Wohl zur Verfügung stellt – oder was man sonst so sagt. Er wird Beamter, um versorgt zu sein – um so unabhängig und verantwortungslos wie möglich zu arbeiten, und um regelmäßig ein sicheres Gehalt zu beziehen. So meditieren Eltern in Wahrheit, wenn sie überlegen, »was der Junge einmal werden soll« – so denken auch sehr viele Studenten, wenn sie sich zu entscheiden haben, ob sie in die Industrie gehen oder die Beamtenkarriere einschlagen sollen. Der Rest sind Ausnahmen oder Lügen.
Der Eintretende nun wird von dem vorhandenen Beamten­körper aufgesogen und kann ihn kaum ändern; wenn er erst die Möglichkeit hat, zu reformieren, ist er zu alt, und sind diese Re­formen dann so stark, dass sie an die Grundelemente des Turms rühren, so wird er automatisch von der Gruppe ausgestoßen. Er verschwindet, denn er hat sich zu assimilieren, nicht sie.
Es ist nun an den jungen Leuten, die in eine staatliche Ver­waltung eintreten, deutlich zu beobachten, wie sich das Indi­vi­duum verändert, wenn es in eine Gruppe eintritt. Das beginnt damit, dass der neu Eintretende der Gruppe zunächst noch mit Zurückhaltung gegenübersteht, er gehört ihr noch nicht ganz an, noch verrät er sie hier und da an Außenstehende, er belächelt ihre Maßnahmen, aber schon beginnt sich zwischen ihm und der nicht zur Gruppe gehörigen Welt leise eine dünne Scheidewand zu erheben… er sagt schon »wir« – »wir machen das so…«, er verbessert vorsichtig den »Laien«, wenn der sich in der Fach­terminologie irrt… er fängt an, mit der Gruppe zusammenzuwachsen. Eines Tages hat sie ihn.
Nun ist sein Weltbild verschoben: Er sieht alles, was geschieht, von der andern Seite, nämlich von innen und für innen, er ist der Bahnhofsvorsteher, der die Züge fahren lässt, damit sie fahren, nicht damit Menschen ankommen, so wie in einem deutschen Schlafwagen ja nicht nur die Schaffner Dienst tun, sondern auch die Fahrgäste. Nun wird seine Vorstellung von der Gruppe überwertig, er verachtet ganz offen die andern, die ihr nicht angehören, und konstruiert sich, um die Gruppe zu erhöhen, die Gruppenehre, ein Vokabularium, Abzeichen und andre Mittel, die Gruppe in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu legen. Ein Hauptmittel ist die Art seiner Arbeit.
Wenn die Ämter Organe des Staatsorganismus sind, so ist dieser Organismus ein Monstrum mit schwerer Elephantiasis. Insular bilden sich die einzelnen Zweige fort, sie wuchern, niemand fragt danach, ob das noch nötig und nützlich für das Ganze ist. Die grauenhafte, sklavische Arbeitsunrast des Deutschen arbeitet, um zu arbeiten – nicht für einen Zweck. Der ist Sache der »Leitung«.
Was in den Ämtern aller Staaten getrieben wird, ist beispiellos, weil es unentwirrbar und mit der Zeit sinnlos geworden ist. Ein Stempelsteuergesetz mit 884 Paragraphen ist auf alle Fälle schlecht, weil die Verfasser nicht wissen, dass die ganze Stempel­steuer das nicht wert ist; es ist eine Deformation des Lebens, eine »Stempelsteuer-Wissenschaft« zu konstruieren, die es nicht gibt, sondern die man erfunden hat, um geschäftigen Nichtstuern zu Brot zu verhelfen, das sie verdienen, ohne es zu verdienen. Was hier am Werk ist, ist der Tätigkeitsdrang von Subalternen, die zufällig auf eine Universität geraten sind – mit universitas hat grade diese Tätigkeit auch nicht das Geringste zu tun, sie ist genau ihr Gegenteil. […]
Man sehe sich einmal einen Etat an… aber das Volk weiß ja nicht, was mit ihm gemacht wird, und der Abgeordnete ist zu faul, zu beschäftigt, zu müde, um alles aufmerksam prüfen zu können. Wie da über jeder nötigen, unnötigen, dem Staat aufgedrängten, vom Staat angemaßten Tätigkeit ein Wasserkopf von »Verwaltung« sitzt, der unnützlich und überflüssig ist, dafür gibt es ganz nahebei ein schönes Beispiel: das ist die Verwaltung der drei Staatstheater in Berlin, ein Ressort, das an einer Privatbühne schneller, besser und glatter von je zwei flinken Sekretärinnen und ein paar Daktylos ausgefüllt wird. Das besorgt bei jenen ein ganzer Stall von Krippensetzern.
Und so auf allen Gebieten. Herr Abegg hat einmal den Versuch gemacht, die zahllosen Polizeiverordnungen, die auf dem Wege der Parthenogenesis entstanden sind, aufzuheben; ihre Zahl ist grotesk, sie beträgt eine Viertelmillion, und aufgehoben hat er sie nicht, weil alle die kleinen Wichtigmacher in Stadt und Land das Netz ihrer Kompetenzen so festhielten, dass kein Aal entschlüpfte. Sie sind alle mit einer Arbeit beschäftigt, die in Wahrheit, wenn man sie recht täte, etwa hundertmal so klein wäre – sie haben sie sich erst gemacht, um sich eine Bedeutung zu geben, und hier sind wir denn auf das innerste Blatt der Zwiebel gekommen.
Es ist der Geltungsdrang als sozialer Faktor, der hier arbeitet, die persönliche Eitelkeit, die ins Sachliche umgeschlagen ist – jeder macht sich ja eine Welt, die so beschaffen ist, dass er, mit seinen Anlagen und Möglichkeiten, die von ihm erst aufgestellten Postulate erfüllt und also ihr Mittelpunkt ist. Die höhern Subalternen in allen Verwaltungen nun haben einen Drang, einen einzigen, der sie neben dem legitimen Wunsch, möglichst viel Rente gleich Gehalt aus ihrer Tätigkeit zu schlagen, beherrscht: sie haben den Geltungsdrang  für ihre Tätigkeit, für ihre Gruppe, für ihr Amt. Wer einmal erlebt hat, was ein preußischer Major im Kriege anstellte, wenn man ihm eine Kompanie Landsturm fortnehmen wollte, wie da der harte Kriegersmann den Tränen nahe war, weil er völlig richtig fühlte, wie seine soziologische Wirk­samkeit nun um zweihundert Mann kleiner wurde – der weiß wie schauerlich expansiv dieser Drang arbeitet. Das Ideal sieht so aus: »Wir haben jetzt so viel zu tun, dass wir noch ein Haus als Verwal­tungs­gebäude dazu kaufen müssen!« Sich ausdehnen; geschäftig sein; dahinter steckt: nötig sein, wichtig sein, etwas gelten!
Das sitzt in jedem Menschen – aber erstens ist es im Deutschen besonders ausgebildet, und zweitens fehlt in Deutschland das Korrektiv des gesunden Menschenverstandes. Anderswo versuchen das die Beamten auch, stellenweise gelingt es ihnen – aber die ratio ihrer Nation ist sehr oft so stark, dass sie, ist einmal ein bestimmter Grad erreicht, »Halt!« ruft, und weiter gehts dann eben nicht. In Deutschland geht es weiter, bis zur Groteske man sehe sich etwa die Dis­kussionen über die »Ver­reichlichung« der Länder­bürokratien an, und man hat genau das, was ich meine: ein Tohuwabohu von wildgewordenen Klein­bürgern, die ein völ­lig imaginäres Gebiet beackern, die etwas tun, was es gar nicht gibt, etwas, das sie erst erfunden haben: um ihre Söhne unterzubringen; um einen Titel zu haben; um in der Klein­stadt etwas zu gelten; um vor sich selbst etwas zu sein, was sie sonst nicht wären; um eine besondere Kaste zu bilden; um des Gehalts willen, ja, richtig: um der Sache willen. Aber die kommt in letzter Linie.
Denn wenn in Deutschland etwas amtlich organisiert wird, was die Herren mit einem dem Kasino entlehnten, scheußlichen Ausdruck »aufziehen« nennen, dann denkt niemand an das Objekt dieser Organisation, nämlich an den, für den doch eigentlich der ganze Betrieb da ist. Und der ihn bezahlt. So wird das nicht gemacht: Sie sehen in erster Linie die überwertig aufgeblasene Gruppe; in zweiter deren Interessen, den Innendienst, die kleinen Bequemlichkeiten für die Beamten, damit die sich auch ja nicht eine Plombe bei der Arbeit abbrechen. Noch nie ist von diesen Organisatoren jemand auf den Gedanken gekommen, zum Schluss folgende Frage zu stellen: »Und nun wollen wir doch einmal sehen, was denn das Publikum zu tun hat, wenn es alle diese Vorschriften befolgt.« Das interessiert dortseits überhaupt nicht; daher dann die irrsinnigsten Anomalien, Vorschriften, die man denen, die sie gemacht haben, um die Ohren schlagen sollte, unerfüllbare Forderungen, Dummheiten, Nachlässigkeiten: Die benötigten Formulare gibt es nicht an der Amtsstelle, sondern anderswo, der Steuerzahler läuft; es müssen vier Bogen ausgefüllt werden, der Steuerzahler schreibt, tut also die Arbeit des Beamten; und so tausend Narrheiten und Albernheiten, die selbst aufzuzählen zu langweilig wären. Aus unerfindlichen Gründen scheint sich bei der Gewährung von Pass-Visen die Beamten­tollheit selbst zu überschlagen; was da von allen Ländern getrieben wird, ist so albern wie ihre Staatsräson und so schmutzig wie die, wo das Visum eine Einnahmequelle darstellt, die fast immer den Tatbestand der Erpressung streift.
Diese Mühle mahlt immer weiter, immer weiter. Ab und zu stößt ein Ehrlicher in der Gruppe einen Stoßseufzer aus: es gibt in der Finanzverwaltung vernünftige Beamte, die zugeben: Alles, was wir hier tun, ist Hokuspokus. Der Bauer zahlt keine Steuer, die Industrie legt uns herrliche Bilanzen vor, von denen wir wis­sen, dass in allen zusammen keine wahre Zahl steht – was wir hier treiben, ist die Vortäuschung einer Idee: als sei es nämlich möglich, Steuern »gerecht« einzutreiben. Was unter diesen Um­ständen eben nicht möglich ist. In einem preußischen Etat­jahr hat zum Beispiel eine Nachprüfung der industriellen Ver­an­lagungen eine Nebeneinnahme hereingebracht, die so groß war wie alle Steuererträgnisse der preußischen Bauern zusam­men. Die Analogie mit einem Tollhaus ist vollkommen: Es gibt ja bekanntlich eine Menge Irrer, die rational denken, und nichts als dies – aber vom Standpunkt eines gesunden Menschen ist ihr Tun eben wahnsinnig.
Die Beamten verlieren sehr bald, meist schon kurze Zeit nach ihrem Eintritt in den Staatsdienst, das Blickfeld für das Ganze – sie ersaufen in ihrem Kleinkram, der zu neun Zehnteln sinnlos, erfunden, überflüssig, unanwendbar und unbrauchbar ist. Das der Gruppe immanente Gesetz aber, sich ständig zu vergrößern und die eigne Geltung möglichst herauszustreichen, zwingt sie dazu, sich nicht nur mausig zu machen, diese unsinnigen Etats zu vertreten und das Rad immer fort und fort zu drehen. Die Folge ist nicht nur eine sinnlose Verschwendung der Steuer­gelder, bei denen niemand kontrolliert, ob sich denn der Aufwand überhaupt noch lohne, der da getrieben wird – die weitere Folge ist eine Verdunklung der Tatbestände, aus denen sich zum Schluss keiner mehr herausfindet. Es gibt ganze Gebiete der Landesgesetzgebungen, auf denen man schon »Fachleute« zu Rate ziehen muss, um sich überhaupt über die einfachsten Grund­lagen klar zu werden. Das liegt nicht an den Materien, sondern lediglich am Geltungsdrang der Beamten, die erst jene Verwicklungen konstruiert haben. […]
Solche aufgeblähten Beamtenkörper abzuschaffen, die überflüssig sind, unfruchtbar, unproduktiv und fast immer reaktionär, ist auf dem Wege der Evolution unmöglich. Jeder Reform­versuch muss ja von einem von ihnen gemacht werden; jeder Reformversuch endet gewöhnlich damit, dass der Dreck, statt herausgekehrt zu werden, von einer Ecke in die andre umgelegt wird; jeder Reformversuch belässt, wenn man es richtig ansieht, alles beim alten. Eine wirkliche Änderung? Dazu hat der liebe Gott die Revolutionen erfunden. Luftreinigungen, die von Zeit zu Zeit erfolgen müssen, wenn nicht alles ersticken will. Dann gehts wieder für eine Weile. Dass sich auch in Sowjet-Russland eine neue Bürokratie herausbildet, brauchen wir den Russen nicht zu erzählen, die es besser wissen als wir und die sich wenigstens bemühen, sie zu bekämpfen – aber man kann eine Bürokratie immer nur von außen bekämpfen, voraussetzungslos, ohne auf das dumme Geschwätz von den »fachlichen Belangen«, von den »historischen Interessen der Länder«, von den »geschichtlichen Gewordenheiten«, von der »Staatsräson« und wie dieses Zeugs sonst noch heißt, überhaupt zu hören.
Der auf uns lastende Beamtenturm verdient einen Tritt, dass er kracht. Die Parteien wagen nicht, das zu sagen – denn sie brauchen die Stimmen dieser Beamten, und die sind gut organisiert und schießen mit Boykott, Klage, Lärm und Mandats­schmä­lerung, wenn ihnen jemand an die Position will, die sie sich so mühsam gemacht haben. Wer soziologisch sehen kann, sieht weiter. Die wohlerworbenen Rechte der deutschen Beamten sind ein schweres Unrecht am Volk, und wenn sie schlecht bezahlt werden, was der Fall ist, so möge man sich sagen, dass sie für das, was sie wirklich Nutzbringendes leisten, in den allermeisten Fällen noch überzahlt werden. Auf der Leiter der Nütz­lichkeit steht obenan die Feuerwehr, unten stehen die Richter, und dazwischen gibt es alle Nuancen. Die Reichswehr sitzt im Keller.
»Sie wollen alle Innendienst machen«, hat Linke Poot das einmal formuliert. Und sie machen ihn. Dabei haben sie sich sachte modernisiert. Sie fangen schon an, nach »wirtschaftlichen Grundsätzen« zu arbeiten, was der liebe Gott verhüten möge, denn was da durch die Lappen geht, beläuft sich auf Millionen. Der lächerliche Stolz, dass der »Laden« soundsoviel im Jahr umsetzt; diese kindische Freude am Betrieb… und alles auf Kosten der Allgemeinheit, die dann, als Refrain, über den Versailler Vertrag stöhnt. Der Reparationsagent hat es richtig erkannt: sie hat ihn im eignen Hause.
III.
Gemeint sind die, die sich nicht getroffen fühlen
»Man oktroyiert«, sagt Jacob Burckhardt, »dem Staat in sein täglich wachsendes Pflichtheft schlechtweg alles, wovon man weiß oder ahnt, dass es die Gesellschaft nicht tun werde.« So gibt es denn keinen Aufsatz über irgendwelche sozialen Missstände mehr, der nicht mit der Mahnung schließt: »Her mit einem Reichsamt für…«, wobei dann der Schreiber gewöhnlich Regierungsrat werden möchte. Es ist lächerlich, von einem Staat, der nicht einmal imstande ist, seine Leute anständig zu ernähren, ihnen ein Dach über dem Kopf zu schaffen und die Tuberkulose vom Hals zu halten – es ist lächerlich, von so einem Jammerwesen zu verlangen, dass es sich für »Zeitungskunde« oder was weiß ich einsetze. Zeitungskunde ist etwas völlig Sekundäres, solange Leute leiden, hungern, frieren, im Elend verrecken. Es ist eine Verkennung der Staatsaufgaben, ihre Überschätzung durch Wichtigmacher und eine Unterschätzung des Volkes, dem Popanz zuzumuten, er solle alles, alles, alles in die Hand nehmen – wozu ihm übrigens keiner der Herren Antragsteller die Mittel in die Hand gibt. Denn vom Erbrecht lassen sie nicht. Dem Staat alle Aufgaben – der imaginären Familie alle Rechte, und das Ganze heißt dann höhere Kultur. […]
Auf den Masochismus des Deutschen aber hat noch niemand vergeblich spekuliert. Seine Unterordnung unter diesen Betrieb ist vollkommen: Wenn ihm mitgeteilt wird, dass er, der Kunde, für sein Geld grüne Badehandtücher bekommt und keine andern, weil die Leitung bedauert… dann badet er grün. Er ist tausendmal Objekt, wenn er nur ein Mal, nämlich in seinem Beamtenberuf, Subjekt sein darf.
Die Wattierung jeder Tätigkeit mit einer überfütterten »Verwaltung« ist Schwäche. Es »verwaltet« sich eben doch viel leichter – produktive Arbeit herzustellen ist schwerer und will gelernt sein. Diesen Verwaltungsrummel, der zum großen Teil in Routine, zum ebenso großen Teil in Intrigen besteht, lernt in ein paar Monaten jeder, sogar ein Offizier kann das lernen.
Wir finden auch hier bei der Industrieverwaltung dasselbe Bild wie bei den Staatsbeamten: eine sinnlose Differenzierung der Organe, die mit dem Gesamtzweck nichts mehr zu tun hat; die Beine und die Arme und die Leber und die Milz haben sich selbstständig gemacht. Ob der Körper dabei krepiert… danach fragt von denen keiner. Man kann natürlich die Aufstellung von Lohnlisten noch mehr differenzieren; man kann noch eine Kartothek einrichten und noch ein Verzeichnis und noch eine Aufstellung, aber ein vernünftiger Mensch wird sich doch fragen: Ja, nützt denn das überhaupt noch? Stehen Aufwand und Resultat in einem gesunden Verhältnis? Hat das noch einen Sinn? Mir wird niemand etwas erzählen: Ich habe monatelang im Kriege eine Tätigkeit vorgetäuscht, die gar keine gewesen ist, ich arbeitete und war fleißig und schuftete umher, und es war alles Unfug und Leerlauf und dummes Zeug und grade gut genug für die Vor­gesetzten: Mittel zum Zweck. Damals freilich war Krieg, und es war nicht meiner.
Diesen Leerlauf nun treffen wir in der Industrie, im Bergbau, zum Teil in den Banken, er wird noch durch die irrsinnige Steuer­gesetzgebung unterstützt, die diesen Unternehmen Hunderte von Menschen aufzwingt, die für das Werk mit dem Staat Krieg spielen. Wir finden den Leerlauf vor allem aber in einem gradezu geisteskrank aufgeschwollenen Verbandsleben, das jede echte Tätigkeit lahmlegt. […]
In kaum einem andern Lande der Erde macht sich wohl der Apparat so störend bemerkbar wie in Deutschland. Wenn man hier etwas kauft, erfragt, verzehrt, wenn man reist, bestellt, anmeldet oder einträgt -: stets steht da, wo anderswo ein Helfender ist, ein alter, bewährter Fachmann, der den Kunden streng mustert. »So? Sie wollen hier mit der Fähre herüberfahren? Merkwürdig, das wollen alle! Na ja – aber so einfach ist das nicht… Sie können das nicht so wissen, aber ich bin ein alter, bewährter Fährenfachmann… Da müssen Sie vor allen Dingen erst mal…« Man hat immer den Eindruck, grade noch geduldet zu sein – jener teilt Gnaden aus, wofür er sich bezahlen lässt, und weil es alle so machen, schimpfen sie zwar, spielen aber alle das lästige Spiel wacker mit. Die ungeheure Aufdringlichkeit des Apparats, der längst aus einer Hilfsfunktion Hauptsache geworden ist, macht sich auf Schritt und Tritt bemerkbar. Ich habe mich einmal auf dem Bahnhof Friedrichstraße nach einer Reise waschen wollen – sie haben mich nicht grade vereidigt, aber sonst haben sie beinah alles getan, was man nur tun konnte. Auch fand sich dort eine Scheuerfrau, die das Wort »Waschraumkarte« fließend aus­sprach, ohne dass ihr das Gebiss herausfiel. Ein Schalter war da, und es gab rote und grüne Billets für die Fahrt in die Wasch, und sie wurden geknipst, richtig… waschen durfte man sich auch. Aber das war eigentlich nur eine leicht überflüs­sige Formalität. Die Hauptsache ist immer der Waschraum­kartenschalterbeamte.
Die glücklichsten Leute sind die, die dergleichen »durch ihr Büro« erledigen lassen – da schlagen sich dann Angestellte halbe Tage lang mit andern Angestellten herum, von denen jeder sehen will, wer den dickern Kopf hat, und den Zweck ihrer Arbeit haben sie alle zusammen vergessen.
Dieses den Beamten entlehnte Massentreiben hat fernerhin zur Folge, dass, was auch immer diese Gruppen in die Hand nehmen, plattester, übelster, schalster und banalster Durchschnitt wird. […]
Die Gruppen, die Beamten und die Kaufleute haben Glück. Die Justiz, wie immer etwa achtzig Jahre hinter ihre Zeit her, ahnt noch nichts von diesen Gebilden, und so entwischen Täter, Mittäter, Helfer und Verantwortliche allemal als nicht vorhanden, wenn man sie je zur Rechenschaft ziehen wollte. Man will aber gar nicht. Denn in den deutschen Gehirnen sitzt der Aberglaube: Was überhaupt zur Kollektivität geronnen ist, das muss schon an und für sich gut sein. »Die Einbrecher«, stand zu lesen, »hatten einen richtigen Sekretär…« und der Sekretär kriegte es ja an Anführungsstrichen nicht schlecht um die Ohren gehauen! Denn Sekretariat, Leitung, Direktion, Werkbüro und Registratur zeigen doch schon an, dass es sich hier um höhere sittliche Werte handelt… Es ist etwa so, als sei ein Schriftsteller darauf stolz, dass er seine Romane mit der Schreibmaschine schreibe, während sie ihm doch nur einen Federhalter ersetzt und es dem Leser herzlich gleichgültig sein kann, wie jener sein Werk zustandebringt, wenn es nur gut ist. Das sorgenvolle Gesicht der deutschen Akten­mappen-Menschen aber, die in den Wichtigkeitsstrudeln ihrer Geschäftigkeit ersaufen, zeigt an, wie ernst sie sich nehmen, wie gottgewollt, wie unfehlbar. Ihre Leistung steht durchaus nicht höher als die der andern Nationen, in denen Arbeit geleistet wird, die Deutschland nicht gepachtet hat. Das Land verwechselt nur Arbeit und Organisation und setzt sie gleich, während Organi­sieren noch lange keine Arbeit ist. Es ist ihr Präludium.
Die Beamtenpest vergiftet die Staaten, die ihren Hauptzweck immer mehr in ihrem eignen Missbrauch erblicken. Sie schaffen Schwierigkeiten, die sie nachher vielleicht gnädig auflösen, und erreicht ist gar nichts. Man sehe sich eine beliebige Anzahl Menschen an – wie viele sind darunter, die etwas tun? bewirken? Neues in die Welt setzen? Wer produktiv ist, das steht dahin. Wer es aber nicht ist, das liegt klar zutage: eine Beamtenschaft in Staat und Gewerbe, deren einzige Existenzberechtigung darin liegt, dass sie daran glaubt, eine zu haben.

(Kurt Tucholsky)

Ein Gedanke zu „Die Beamtenpest

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